Reinhold, Karl Leonhard, Philosoph und Schriftsteller (1758-1823).

Eigenhändiger Brief mit Unterschrift Kiel, 22. IV. 1798, 8°. 4 Seiten. (Kopf mit Beantwortungsvermerk 2. V.).

Nicht vorrätig

Beschreibung

An den Verleger Carl Friedrich Ernst Frommann (1765-1837) in Jena mit Erwähnung von Wieland, Fichte, Böttiger, Hufeland, Mereau etc.: „Seit gestern bin ich von einer drey wöchenlangen Ferienexkursion wieder zu Hause, und der erste Gebrauch, den ich von meiner so lange bey Seiten gelegten Feder mache, ist dieses Schreiben an Sie. Leider! ist das Ihrige mit seiner interessanten Beylage zwey Tage nach meiner Abreise von Kiel erst eingetroffen sonst würde das Gegenwärtige längst in Ihren Händen sein. Ich hätte freylich in Ham, Hamburg, u.s.w. schreiben können. Aber fürs Erste lagen Ihre Hefte die mein Brief an sie geleiten sollte, in Kiel in meinem Schreibpulte verschlossen; und dann war ich anfangs noch zu kränklich und nachmals zu zerstreut. In Hamburg – mir schwindelt wenn ich an den Wirbel von Sachen und Personen der mich da selbst mit Lust und Unlust herumwälzte zurückdenke – war ich nur halb meiner Besonnenheit und gar nicht meiner Zeit mächtig. Auch diesesmal war mir das Vergnügen versagt Ihre mir sehr werthe Schwägerin wieder zu sehen. Kaum die Hälfte der Personen die ich sprechen, und der Sachen die ich sehen wollte – kamen an die Reihe. – Das langwierige Klosterleben hat mich vielleicht nicht für die Studierstube, und den Catheter aber desto mehr für die große Welt unfähig gemacht, in der ich nie auftreten kann, ohne die Eine Hälfte meiner Freiheit entweder das Thun – oder Unterlassen einzubüßen. Ungeachtet ich also nicht läugnen kann, daß mir meine Ferienreise sehr wohl bekommen ist, und daß ich während derselben nicht wenige höchst vergnügte Stunde gehabt habe; so kann ich doch das ganze dieser zwar nicht langweiligen aber langwierigen Erholung nicht wohl anders denn als eine Arzney ansehen. Auch habe ich sie mit ungleich mehr Vergnügen beschlossen als angefangen. Auch zu Hause lebe ich nicht zwischen vier Wände eingekerkert – schon das zweite Jahr bringe ich jeden auch nur leidlichen Witterungstag in einer gemietheten Gartenwohnung am Hafen mit einer reitzenden Aussicht zu, und kann mir überhaupt seit ich verheyratet bin nicht vorwerfen daß ich über meine Studien die Pflege meiner Gesundheit vernachlässige – Ich büße meine litterarische Unmäßigkeit vom Klosterleben her. – Aber Hilf Himmel! was schwätze ich da! Von mir und über mich – als ob Sie selbst an meiner Seite säßen und nach langer Abwesenheit mir meinen Zustand abfragten – nicht als ob ihr Brief vor mir läge, und über ein langes unverzeihliches Stillschweigen mich zur Rechenschaft zöge – – Ich mißbillige hasse dieses Stillschweigen so sehr, daß ich nicht auf einen der mannigfaltigen Entschuldigungsgründe durch welche ich die Schuld des selben mildern könnte mich berufen will. Ich darf ich will in Zukunft Ihre Freundschaft, die mehr großmüthig vergeben hat, nie wieder auf diese Probe setzen, welche dieselbe so trefflich bestanden hat. Und nur zur Antwort auf Ihre Fragen. Frau und Kinder sind gesund, und ich erhole mich von einem sehr peinlichen und bedenklichen Anfall meiner Krämpfe, der diesen Winter öfter und länger als je sich eingefunden hat. Meine Vorlesungen gehen ihren vorigen Gang vor, und werden hier verhältnißmäßig so fleißig ist als in Jena besucht. Meine Verhandlungen [über die Grundbegriffe und Grundsätze der Moralität, 1798] haben nun wohl schon die Presse verlassen, und werden sich in Ihren Händen viel früher als in den meinigen befinden. Ich überlasse es dem Verleger Ihrem Schwager [Friedrich] Bohn Ihnen ein Exemplar in seinem und meinem Namen zu geben. Es von hier aus an Sie senden wäre wohl zu weitläufig. Was ich über die Spekulative Philosophie itzt für wahr halte finden Sie in meiner Recension von der Wissenschaftslehre [von Johann Gottlieb Fichte, 1798] in der A. L. Z. Januar d. J. N. 4 und f.f. Von dem Ungewitter, das sich über unsren Fr. hin, und weggezogen hat, habe ich fast mit denselben Umständen über Hamburg schon seit lange her Nachricht erhalten. Die böttichersche [Karl August Böttiger ] Correspondenz im [Teutschen] Merkur hat von Zeit zu Zeit Fr.s und seiner Thätigkeit in Berlin durch eine litterarische Gesellschaft erwähnt. Sie begreifen leicht, daß ich von dieser Tätigkeit mehr als jene Gesellschaft und als Böttcher zu wissen glaubte. – Nun sehe ich aber daß Böttcher mehr davon wußte. Er ist ja neuer Bevollmächtigter der ganzen übrig teutschen F[reimaurerey]. – Ich kann mich nicht entbrechen, die Vielthuerey, die Vervielfältigung, und Complimentirerey dieses in allen Journalen auftretenden, in allen Kreisen, Distrikten, und Städten Teutschlands und des Auslands Correspondierenden – Allwissers zu scheuen. Tausend Dank für das [Georg Samuel Albert] Mellinsche Wörterbuch [der kritischen Philosophie], dessen Fortsetzung ich sehnlich entgegensehe, und noch mehr Dank für – die gute Sache der F[reimaurerey] – die mir, wie Sie leicht denken können, sehr am Herzen liegt, aber der ich noch mehrere Personen von einer gewissen Art und viel wenigere von einer anderen Art als ich in dem Verzeichnisse fand, wünschen möchte. Hoffentlich sehen wir uns künftiges Frühjahr in Weimar und Jena; obgleich der Grad meiner Hoffnung nicht so groß als meines Wunsches ist. An Wieland schreiben wir auf den nächsten Posttag und legen Ihm unsere Freunde Frommanns ans Herz – wiewohl wir Ursache haben zu glauben, daß Sie bereits an demselben liegen. Glück und Heil zu Ihrer Vaterschaft und gesegnetes Fortschreiten auf diesem neuen Weg des Lebens. – Auch zu Ihrer Ansiedlung in Jena wünsche ich Glück – es lebt sich leicht und heiter dort, wie ich aus sechsjähriger Erfahrung weiß. Die Natur ist freundlicher da, wie sie an wenigen anderen Plätzen Teutschlands ist, und die große Wohlfeilheit hat uns daselbst baß behagt, die wir hier sehr empfindlich vermissen. An Paulus, den beiden Hufelanden, Batsch u. v. a. werden Sie sehr liebe Menschen finden, und mehr als Einer darunter wird Ihr Freund werden. Vor mehreren Jahren hat Hufeland der Justitzr[at] mit mir und Bock gemauert. Aber er hat es lange aufgegeben. Auch Professor Mereau ein treuer dienstfertiger herzlicher Mann – der aber damals erst Anfänger war – hat als Handlanger am Tempel gearbeitet. Ich empfehle Ihnen diesen Mereau – weil ich hoffe, dass er nicht aufgehört hat sehr brav zu sein. – Wir – B. J. und ich arbeiten ununterbrochen nach der Ihnen bekannten Weise fort. Zum Behuf unserer über kurz oder lang zu errichtenden Maurer[loge] wünschten wir ihr berlinsches Ritual – für welches wir die Copialgebühren sehr gerne tragen wollen. Ihre Hefte folgen hier. Sie sind reichhaltig an trefflichen Ideen, aber ermangeln an Simplicität, die wir auch wohl noch in euren Direktionen des einen Direkt- des Baumeisterkoll[egiums] und der Meisterloge vermissen. Herzlich umarme ich Ihre Frau, die ich wie meine leibliche Schwester liebe, und der Sophie geschrieben hat. Ewig Ihr treuer Reinhold […]“ – Reinhold wurde 1784 Mitherausgeber von Christoph Martin Wielands, seines Schwiegervaters, „Teutschem Merkur“. Im selben Jahre trat er zum Protestantismus über. Der 1785 ausbrechende Streit zwischen Kant und Herder wurde Anlaß für sein philosophisches Engagement. Vor allem mit dem vorkritischen Rationalismus vertraut, verteidigte er zunächst Herder, entdeckte sodann die Kantische Philosophie, die bald zu seinem „Evangelium“ wurde. Seit 1786 publizierte er die vielbeachteten Briefe über die Kantische Philosophie, 1787 wurde er in Jena zum Prof. der Philosophie ernannt. Dort betätigte er sich als Verbreiter und scharfsinniger Verbesserer der Kantischen Vernunftkritik. Reinhold gilt als der wichtigste aus Österreich stammende Vertreter der deutschen Aufklärung. Inzwischen wird sein philosophisches Denken in seinem gesamten Umfang und als eigenständiger Ansatz innerhalb der postkantischen Systemphilosophie zur Kenntnis genommen, erforscht und interpretiert. – Gut erhalten. – Sehr selten.