Andreas-Salomé, Lou, Schriftstellerin und Muse von Nietzsche, Rilke und Freud (1861-1937).

Eigenhändiger Brief mit Unterschrift „Lou“. Ohne Ort und Jahr [wohl aus Berlin, 1882-1885], Kl.-4°. 6 Seiten. 1 Doppel-, ein einfaches Blatt.

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Beschreibung

An die Jugendfreundin „Misi“. Äußerst seltener, früher Brief der noch jungen, unverheirateten Lou von Salomé, die erst 21-jährig von 1882 bis 1885 mit Paul Rée in Berlin in einer Wohngemeinschaft lebte. Reich an Anspielungen auf ihre eigenen literarischen Pläne und den sogenannten Berliner Kreis, der in der frühesten Phase der gesellschaftlichen Nietzsche-Rezeption in Berlin eine zentrale Rolle spielte: „Sonntag [Randnotiz in Bleistift, dann weiter in Tinte:] Liebste Misi, Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie trotz aller Familien- und Verlobungs-Festlichkeiten, Muße für mich fanden. Es ist schön, daß Sie jetzt so heiter leben, sogar in Röhrig seine Kunst eingreifen, was ich ihm schon erzählt habe und wozu er Ihnen, etwas vom Olymp seines Genie’s herab, viel Glück wünscht. Gewiß ist das die beste Art soviele Braut-Aufnahmen mit stets denselben Menschen zu beleben. Wie gerne hülfe ich Ihnen am humoristischen Prolog, wenn ich nur selber eine Spur von Talent zu humoristi-schen Gelegenheitsdichtungen besäße! Sie sollten sich Dr. Grube dazu engagiren, das wäre am schönsten! Aber über alledem werden Sie doch nicht vergessen, in das Ausland zu reisen? Das möchte ich mir schön verbitten! – Ich kann mir denken, daß es mit Emotionen verbunden sein muß, seine Jugendgespielin einem fremden Manne fortzugeben, – von den meinen hat sich keine verlobt, aber wir werden wohl beide das Schicksal erleben, in unserer gänzlichen Unverheirathetheit unseren Freundin-nen nachzuschauen!! Wissen Sie, liebe Misy, dann wollen wir uns auf die alten Tage zusammenthun, ich glaube wir kommen sehr gut zusammen aus. – Gerade jetzt ist es manchmal, als würden manche ganz vergessenen und phantastischen Ideen aus meiner Backfischzeit in mir wach, die mir Lust machen, die alten von Emma aufgestöberten Gillotpredigten, bei denen ich ihm so oft half, durchzulesen. Ich wünschte einst so sehr, Prediger zu werden. Nun werden von einem sehr lieben Freund, Dr. Göring, großartige Pläne in Schweden realisiert, bei welchen er heiß wünscht, mich in einer wunderschönen Predigertätigkeit dort zu sehen. [Einweisung: Sprechen Sie aber nicht von diesen intimen Ergüssen. Dies ganz unter uns; es ist auch nur erst eine abenteuerliche Idee, aber sie verfolgt mich bis in meinen Schlaf. Auch Sie wären dort am Platz.] – o so sehr! Ich habe das unbeschreibliche Glück gehabt diesen außerordentlichen Menschen in den letzten Monaten unseres Umgangs durch Freundschaft und Zuspruch über ein sehr trauriges Schicksal hinweghelfen zu dürffen; in kurzer Zeit verliere ich ihn schon, aber ich denke nicht auf lange. – Von dem Gedicht Menschenliebe, welches Sie bei Emma lasen, ist die letzte Strophe damals schlecht gelungen und lautet, in ihrer bessern u. den Gesammtgedanken nicht mehr so subjektiv sondern präciser wieder gegebenden Form so: Drum, treibt es dich Menschen liebend zu umfangen | Nimm sie nachsinnend auf; – in ein Gemüth | Das ihnen mild begreifend nachgegangen | Und ihres Wesens Tiefen an sich zieht; | Bis es daß einzige Gebot nur übe: | Was Mensch heißt, das bleibt werth der Menschenliebe. Beiliegend ein paar neuere Gedichte, da Verse Ihnen Freude machen. Ich dichte jetzt oft so für mich hin. Lesen Sie doch die herrlichen Nibelungen von Jordan, beide Theile. An den anfangs befrem-denden Stabreim gewöhnt man sich schnell. – Aus meinen Erlebnissen mit G. machte ich eine Art Stimmungsnovelle, mit unverändertem Schluß, deren 3 Abschnitten lauten: Das Märchen. Der Roman. Die Wirklichkeit. Natürlich ist es nur für mich, kann und darf nie, auch in keiner Veränderung, gedruckt werden. In diesen Tagen reist Rée zu den Ferien heim, im April reist Göring fort, dann bin ich trotz der übrigen Freunde recht einsam und erwarte Sie um so sehnlicher. Röhrig macht uns charakteristischerweise am meisten Freude, wenn er Gedichte liest, z.B. Freiligraths Mohrenfürsten und neulich den herrlichen Gefangenen von Chillon von Byron. Für das Heroische klingen keine Saiten in seinem Charakter an; er ist nicht aus dem Stoff aus dem das Leben seine Helden und Märtyrer schneidet. In diesen Tagen sehe ich mit ihm Rossi spielen. Staatsanwalt Heinemann hat um eine Versetzung nachgesucht; er kommt als Ersterstaatsanwalt nach Göttingen. Unser Ver-kehr ist sehr still geworden. Noch ein paar Winter und ich suche die tiefste Stille auf um für einige Zeit nur dem Versuch zu leben, ob ich aus all‘ dem, was ich intensiv lebte und dachte, nicht etwas schaffen kann. Aber dann, wenn mir dies gelungen sein sollte, suche ich kein neues Erleben in einem Dasein wie ich es jetzt führe, sondern in einem großen, praktischen Kultur-Unternehmen, wie dasjenige für welches Göring Gut u. Blut einsetzt. Wie wenig liegt am blos Intellektuellen! Wenn es ginge, würde ich diesen Sommer am liebsten im Juli ein schönes Weilchen mit Ihnen und Emma in Wiesbaden sein, dann Gillots lieben Jungen in Carlsruhe besuchen u. mit einem römischen Freunde der herüberkommt, Professor Schumann ein rendez-vous haben, um dann den Herbst an der schwedischen Grenze mit Göring u. seinen Freunden zu verbringen. Es ist zu schade daß Sie ihn nicht mehr kennen lernen. Für heute muß ich wohl meine sehr flüchtige Kritzelei wohl schließen, schreiben Sie mir doch wann Sie kommen, und ob Sie von Schwalbach nach Wiesbaden gehen. Ich freue mich auch sehr, Sie in mein behagliches, kleines Heim zu führen. Bei Grube’s geht es besser, der böse Husten läßt nach; die ganze Zeit über mußte Willy Grube zu Hause sitzen, und langweilte sich sehr. Herzlich Ihrer gedenkend liebe Misy, Ihre Lou““ – Die hier mehrfach erwähnten Wilhelm Grube, ein aus Petersburg stammender Sinologe, und Hugo Göring, der 1924 über seine ‚Begegnung mit Nietzsche‘ schrieb, waren zwei der Schriftsteller, Wissenschaftler und Philosophen des Berliner Kreises, den die „Exzellenz“ Lou von Salomé und die „Ehrendame“ Paul Rée um sich versammelten. „Friedrich Nietzsche war noch nicht allen bekannt: ‚Dennoch stand er, gleichsam verhüllten Umrisses, in unsichtbarer Gestalt mitten unter uns'“ (zit. nach Reschke/Brusotti, S. 445). Zu den „übrigen Freunden“ zählten u.a. Hans Delbrück, Paul Deußen, Hermann Ebbinghaus und Max Heinemann („Ersterstaatsanwalt nach Göttingen“). Bedeutsam ist die mehrmalige Erwähnung von Emma Wilm (verheiratete Flörke). Sie war eine Nichte der Mutter Louise von Salomé (geb. Wilm), Lous Lieblingscousine, lebenslange Vertraute und offenbar zugleich, darauf deutet der Brief hin, eine Freundin oder Bekannte der Adressatin des vorliegenden Schreibens. Lou von Salomé erinnert sich darin weiter an die prägende Bekanntschaft mit dem protestantischen Pastor der Niederländischen Gesandtschaft in St. Petersburg, Hendrik Gillot. Der 25 Jahre ältere Theologe, der eine Tochter und einen Sohn („Gillots lieben Jungen in Carlsruhe“) in Lous Alter besaß, unterrichtete sie in philosophischen, literarischen und religiösen Themen. Die Verbindung zerbrach, als er dem jungen Mädchen einen Heiratsantrag machte und ankündigte, seine Frau zu verlassen („aus meinen Erlebnissen mit G.“). Schlussendlich erwähnt sie ihre persönlichen literarischen Pläne („ob ich aus all‘ dem, was ich intensiv lebte und dachte, nicht etwas schaffen kann“). Nur wenig später setzte Lou von Salomé diesen Plan in die Tat um und veröffentlichte 1885 unter dem Pseudonym Henri Lou ihr erstes Buch „Im Kampf um Gott“. Die Kritiken waren gut, das Pseudonym schnell durchschaut, und der Erfolg machte Lou, seit 1887 Andreas-Salomé, bekannt. – Renate Reschke, Marco Brusotti (Hrsg.), „Einige werden posthum geboren“: Friedrich Nietzsches Wirkungen, Berlin 2012; Kerstin Decker, Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke ich, Berlin 2015, S. 193, 355 ff. – Kleine Einrisse in der Knickfalte; Klammerspur am Oberrand.