Andreas-Salomé, Lou, Schriftstellerin und Muse von Nietzsche, Rilke und Freud (1861-1937).

Eigenhändiger Brief mit Unterschrift „Lou“. Ohne Ort und Jahr [wohl aus München, kurz nach dem 2. Mai 1919], Kl.-4°. 2 Seiten.

Nicht vorrätig

Beschreibung

An die Jugendfreundin „Misulka“, unmittelbar nach dem Tod Gustav Landauers in München am 2. Mai 1919. Der Brief be-ginnt ohne Anrede: „Pack! Pack, das sich schlägt, sich verträgt und und erst die Toten endgültig tötet indem es über sie weg-lebt. Wir müssen so tun, aus primitivster, feigster Selbsterhaltung, aber auch daraus schneiden wir uns schönste Phrasen, diese widerlichste Draperie des gierigen und ungroßmütigsten Thieres Mensch. Deine kleine russische Bekanntschaft wog gewiß den Tratsch vieler Anderer auf. Möchte jetzt Dein Fräulein so erholt wiederkommen, daß sie Dich umsorgen kann. Ich bin froh, dich von einem, wenn auch zusammengeschmolzenen Gelde sagen zu hören, denn das russische ist doch wohl hin? Meines ganz, und meines Mannes Bischen aufgegessen, (wörtlich zu nehmen,) und in Zukunft wegen Schulden Armut. Das Schlimme ist, daß jetzt auch buchhändlerisch auf lange hinaus nichts zu wollen ist. Aber es leiden keine Kinder darunter. Wenn ich das dürfte, – nicht bloß finanziell, auch mit einer Million: Kinder haben -. (In München sah ich Kleine buchstabie-ren, an den roten Plakaten: ‚Standrecht‘, und über den geschlachteten Gustav Landauer, meinen Freund.) Auch was jetzt jung ist, hat es arg. Seien wir dankbar, Misulka, für unsere grauen Haare, – für nichts geb ich das vergangene Leben weg. Da hast Du nun eine Brüllerei ohne Methode; ich sitze dabei splitterfasernackt in diesem julihaften Wunderwetter auf meiner dazu hergerichteten Veranda, die wie ein Nest oben in Lindenwipfeln ist. Um 6 früh und um 6 Abend wandere ich mehrstündig mit einer kleinen weißen Terrierin, die Tsada heißt; mein männliches liebes, liebes Terrierlein, lebte nur – einen Krieg lang. Mißdeute nichts draus, wenn ich künftig nur wieder Karten schmeiße. Mir ist Briefschreiben furchtbar. Brieflesen um so wohltuender. Nun potseluy [russisch: Kuss], Misy, ich küsse dich. Deine Lou. Hör mal: soeben reiste Martha Burger pracht-voll nach Königsberg: diese Strecke noch garnicht überbesetzt und bequem wie sonst.“ – Lou Andreas-Salomé kommentiert die finanziellen Folgen der Oktoberrevolution in Russland 1917, samt dem „zusammengeschmolzenen“ Vermögen, sowie vor allem die Geschehnisse um die Münchener Räterepublik und den Tod Gustav Landauers („meinen Freund“). Gustav Landauer (1870-1919), als einer der wichtigsten deutschen Anarchisten und Pazifisten an einflussreicher Stelle an der Münchner Räterepublik im April 1919 beteiligt, wurde nach deren gewaltsamer Niederschlagung von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten ermordet. Lou weilte zu dieser Zeit in München, wo sie ein letztes Mal mit Rilke zusammentraf (Decker, S. 357). Ihre Formulierung „Kinder!“ nimmt Bezug auf die 1901 erlittene Fehlgeburt während ihrer Beziehung zu Friedrich Pineles. – Vgl. Kerstin Decker, Lou Andreas-Salome. Der bittersüße Funke Ich. Berlin 2012, S. 357; Stéphane Michaud, Zensur und Selbstzensur in Lou Andreas-Salomés Autobiographischen Schriften. In: Brockmeyer/Kaiser (Hrsg.), Zensur und Selbstzensur in der Literatur, Würzburg 1996, S. 157.